In Tarnunterwäsche

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Martin Candinas, Präsident des Nationalrats, empfing Volodymyr Zelensky heute um 14 Uhr per Videokonferenz in Anzug und Krawatte. Brigitte Häberli, Präsidentin des Ständerats, war ebenfalls in zivil. Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier dito. Darunter aber trugen sie alle Tarnunterwäsche. Kein Zweifel. In den Krieg, in den Krieg!
Bei anderen Gelegenheiten (z. B. in meinem neuen Buch, Sulla guerra. Perché non riusciamo a non farla, Redea Publishing) schreibe ich, dass Krieg nur existieren kann, wenn wir akzeptieren, dass er das ist, was er in Wirklichkeit nicht ist. Ich beweise es anhand dessen, was ich als Reporter auf den Schlachtfeldern gesehen habe.
Der Krieg ist, ebenso wie das Gemetzel, eine erschreckende intellektuelle Täuschung. Zu sagen, dass die Ukrainer «auch unsere Werte» als Schweizer, Europäer und generell als Westler verteidigen, wie Nationalratspräsident Martin Candinas sagte, bedeutet, auf eine dieser Täuschungen hereinzufallen und sie nicht zuletzt mit zu propagieren.
Den Ukrainerinnen und Ukrainern «Kraft, Mut und einen gerechten und dauerhaften Frieden» zu wünschen, wie es Ständeratspräsidentin Brigitte Häberli tat, ist sicher ein ehrenwerter Wunsch, aber das bedeutet zu glauben, dass der "gerechte" Frieden auch so kommen wird, wenn man den Krieg und die Waffen, die man ihm gibt, so weiterlaufen lässt.
Es hätte heute einiges an politischer Kraft und Mut gebraucht, um in Bern zu erklären, dass dieser Krieg jetzt zuallererst beendet werden muss.
Es ist möglich, dass Candinas und Häberli ihre Äusserungen ernst gemeint haben, ebenso wie es möglich ist, dass sie sie in Anlehnung an ihre Kolleginnen und Kollegen gesagt haben, die in der Vergangenheit Präsident Zelensky de visu oder de video im Parlament und in den beiden Kammern willkommen geheissen haben.
So sehr Zelensky bei seiner anschließenden Rede erwartungsgemäß sein Narrativ wiederholte, dass sein Land «den Frieden gegen die Quelle des Bösen» verteidige, und dabei den Wert einer anderen Lesart dieses Konflikts, einer Lesart historisch-geopolitisch-strategischer Art, abtat, so sehr verdient heute etwas hervorgehoben zu werden: In einer Passage seiner Rede beschrieb Zelensky, was Krieg wirklich ist, und spielte dabei auf die russischen Bombardierungen und die getöteten Zivilisten (darunter Kinder) an. Er hat es verständlicherweise (aus seiner Sicht) versäumt, darauf hinzuweisen, dass dasselbe auf der anderen Seite der Front, bei den ukrainischen Bombenangriffen, passiert, aber er sagte immerhin, dass Kinder im Krieg sterben.
Inmitten seiner üblichen Zweideutigkeiten und der offensichtlichen Dosis Propaganda, die für einen Staatschef in derselben Situation typisch ist («Wer uns unterstützt, schützt die Welt vor dem Krieg»), veranschaulichte Zelensky einer hypnotisierten Bundesversammlung mit wenigen Worten, was Krieg wirklich ist, jenseits der Täuschungen, zu denen der Krieg fähig ist und denen er uns immer wieder ausliefert: Krieg ist ein Massaker an unschuldigen Menschen.
In den einleitenden Sätzen von Nationalratspräsident Martin Candinas und den abschliessenden Sätzen seiner Ständeratskollegin Brigitte Häberli sowie im Applaus der aufgesprungenen Parlamentarierinnen und Parlamentarier war von diesem Bewusstsein nichts zu spüren. Sie waren zu aufgeregt vielleicht. Oder aber sie wissen nicht, was Krieg wirklich ist.
(gianluca grossi)